Was macht der Hippocampus?

verfasst von Ao. Univ.-Prof. Dr. Margarete Delazer
Leiterin der Klinischen Neuropsychologie der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck

Im Alltag der Neuropsychologie haben wir sehr viel mit Schädigungen des Hippocampus zu tun. Man denke nur an die Alzheimer Erkrankung, an die Temporallappenepilepsie oder an die limbische Encephalitis. Es ist bekannt, dass Schädigungen des Hippocampus zu verheerenden Gedächtnisstörungen führen können. Der Hippocampus vermittelt episodisches und autobiographisches Gedächtnis, also Zugang zu unserer persönlichen Vergangenheit und konsolidiert Erinnerungen. Neben der Gedächtnisforschung beschäftigte sich eine zweite Forschungsrichtung zur Raumrepräsentation (z.B., O’Keefe und Dostrovsky, 1971) mit dem Hippocampus. In den folgenden Jahren haben die beiden Forschungslinien, einerseits zum Gedächtnis, andererseits zur Raumrepräsentation, unabhängig voneinander existiert. Aus neuropsychologischer Sicht fehlte die Synthese. 
In rezenten Studien mit Patientengruppen hat sich gezeigt, dass der Hippocampus noch ganz andere Funktionen hat als die Gedächtniskonsolidierung und die Navigation (einen guten Überblick, auf dem auch diese Zusammenfassung beruht, findet man in Maguire et al., 2016). Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle in der Perzeption von Szenen, in der Konstruktion von Szenen, in der Vorstellung von Zukunft, und im Tagträumen. Man nimmt an, dass ein gemeinsames cerebrales Netzwerk diese verschiedenen Domänen unterstützt, die bisher doch als sehr unterschiedlich und selektiv störbar gesehen wurden. Neuropsychologisch gut untersucht ist die Scene construction theory (SCT).
Die SCT nimmt an, dass der Hippocampus die Konstruktion von Szenen ermöglicht, indem Details verknüpft und in einen räumlichen Zusammenhang gesetzt werden. Wenn wir uns Erinnern, über die Zukunft nachdenken, oder planen irgendwohin zu gelangen, entwickeln wir typischerweise Szenen. Szenen zu Konstruieren ist ein wesentlicher Bestandteil für das episodische Gedächtnis und dafür, sich die Zukunft vorzustellen, aber auch für räumliche Navigation und Perzeption.

Die Schwierigkeit Szenen zu konstruieren wurde in verschiedenen Patientengruppen mit Hippocampusschädigung gefunden. Mehrere Aufgaben wurden entwickelt, um die Funktion (oder die gestörte Funktion) des Hippocampus nachzuweisen. Besonders erwähnenswert sind hier die Aufgaben zu Boundary Extension. Boundary Extension ist ein kognitives Phänomen, bei dem wir uns irrtümlich erinnern, mehr von einer Szene gesehen zu haben, als wir tatsächlich wahrgenommen haben. Patienten mit Hippocampusschädigungen zeigen dieses Phänomen nicht. Wenn wir eine Szene sehen, dann extrapolieren wir implizit und automatisch über das Gesehene hinaus und bilden eine ausgedehntere interne Repräsentation. Wenn der originale visuelle Input nicht mehr vorhanden ist, dann wird fälschlicherweise die erweiterte Repräsentation erinnert, somit entsteht ein Gedächtnisfehler (Maguire et al., 2016). Boundary Extension findet man in Zeichnungen aus dem Gedächtnis, im Wiedererkennen von Szenen und sogar in taktilen Aufgaben (Maguire et al., 2016). 

Die Konsequenzen könnten weitreichend sein, wenn wir davon ausgehen, dass mit einer Hippocampusschädigung nicht nur ein Gedächtnisverlust einhergeht, sondern auch die Unfähigkeit, Szenen zu konstruieren. Wenn wir uns keine Szenen mehr vorstellen können, fehlt uns nicht nur das autobiographische Gedächtnis, sondern auch die Vorstellung von Zukunft. Wir sind im Hier und Jetzt gefangen. Die Unfähigkeit, verschiedene Szenarien durchzuspielen macht es uns unmöglich, auf neue Umstände flexibel zu reagieren. Diese Annahmen müssen noch besser untersucht werden, dürften aber in der Zukunft eine Rolle in der Beratung, Therapie und Rehabilitation spielen. 

Referenzen
Maguire, E. A., Intraub, H., & Mullally, S. L. (2016). Scenes, spaces, and memory traces: what does the hippocampus do?.The Neuroscientist,22(5), 432-439.
O'Keefe, J., & Dostrovsky, J. (1971). The hippocampus as a spatial map: Preliminary evidence from unit activity in the freely-moving rat. Brain research.
Hassabis, D., & Maguire, E. A. (2007). Deconstructing episodic memory with construction. Trends in cognitive sciences, 11(7), 299-306.
Maguire, E. A., & Mullally, S. L. (2013). The hippocampus: a manifesto for change. Journal of Experimental Psychology: General, 142(4), 1180.
Graham, K. S., Barense, M. D., & Lee, A. C. (2010). Going beyond LTM in the MTL: a synthesis of neuropsychological and neuroimaging findings on the role of the medial temporal lobe in memory and perception. Neuropsychologia, 48(4), 831-853.